Wir schreiben Mittwoch, den 26.6.2019, die frühen Morgenstunden. Aus irgendeinem Grund, oder eher aus mehreren Gründen, liegt der Verfasser dieser Zeilen wach im Bett und kann nicht schlafen. Da ist die unerträgliche Hitze, die Mitteleuropa in diesen Tagen in Atem hält. Da sind die Mücken und Fliegen, die sich in sturzflugartigen Manövern immer wieder in Richtung der Lichtquelle des Smartphones oder Laptops stürzen. Da sind die letzten Tage des Uni-Semesters, die ihn traditionell stressen. Da sind hunderte Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. Als er also schlaflos in seinem Bett im 6. Stock eines Wohnhauses dahinvegetiert, klickt er sich durch die immergleichen Seiten des World Wide Webs. Der Sommer hält wie so häufig einige nette Europacuppartien bereit. Die schönste Zeit im Jahr bricht an, wo sich nicht nur die Lincoln Red Imps aus Gibraltar den Kopf zerbrechen, wie sie denn am Besten in den Kosovo zum KF Feronikeli reisen könnten, sondern auch Fußballreisende aller Art die Transport- und Ansetzungsseiten minütlich nach der besten Kombinierbarkeit mit einer Akribie durchforsten, die selbst Mikrobiologen vor Neid erblassen lässt. Gedanken, die ihn gegen 2 Uhr morgens nun beschäftigten: Dunajska Streda? War er erst. Bratislava im neuen Stadion? Gut möglich, kommt er aber eh schnell mal hin, also weiterrecherchieren. Budapest? Dito. Schon bei der Auslosung war dem Verfasser das Spiel des FK Sarajevo gegen Celtic als wohl Interessantestes der 1. Runde aufgefallen. Er hatte es, wegen des hohen Aufwands und mangels Mitfahrer, aber vorerst auf Eis gelegt. Nun aber hielt die Leere der Nacht auch im Kopf Einzug, die Langeweile nahm Überhand und schon sah er sich auf den diversen Seiten nach Verbindungen in die bosnische Hauptstadt suchen.
Schon von frühester Kindheit an faszinierte ihn das Land Bosnien und Herzegowina. Seine Geburt fällt in jenes Jahr, in dem in Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des 2. Weltkriegs stattfand. Dieser Krieg zwang auch tausende Menschen zur Flucht, was sich bereits in seinem Kindergarten bemerkbar machte. Sein ganzes Leben lang begleiten ihn nun Freunde aus dem ehemaligen Jugoslawien und davon kommen viele aus dem heutigen Bosnien. Im Fußballverein bewunderte er stets die Kinder mit ihren blauen ‘Bosna i Hercegovina’-Trainingsanzügen und auch ihre Eltern, die sich mit ihrer Freundlichkeit stets bei fast allen beliebt machten. Das zunehmende Interesse für Fußball in all seinen Facetten machte auch vor Bosnien nicht Halt und mit seiner romantisierten Idealvorstellung von älteren Herren im Ballonseide-Trainingsanzug von wahlweise Legea oder Adidas, rauchend und rakijatrinkend am Sportplatz, von dem der Putz abbröckelt und der beste Sicht auf das örtliche Minarett bietet, machte er sich 2016 endlich zum ersten Mal auf den Weg, das bosnische Lebensgefühl einzuatmen. Seitdem ist seine Faszination für Land und Leute, vor allem auch für die Städte Sarajevo und Mostar, weiter gewachsen. Sie verbinden das Orientalische mit dem Europäischen, den Islam mit dem Christentum, Istanbul und Wien. Es gibt wenig Schöneres als morgens mit einem bosnischen Kaffee und einem Stück Baklava auf der Bas Bascarsija, der historischen Altstadt Sarajevos, zu sitzen und die Ruhe zu genießen. Obwohl hier meistens viel los ist, hat man dennoch das Gefühl, an einem Ort zu sein, der weit von der von STS besungenen Hektomatikwelt entfernt ist.
Dies alles ging ihm so durch den Kopf, als er einige Nerven und Minuten später eine geeignete Verbindung gefunden hatte und diese auch buchte, die Vorfreude war groß, das Mitteilungsbedürfnis ebenso. Der nächste Morgen holte ihn ein Stück weit auf den Boden der Realität zurück. Nach kaum zwei Stunden Schlaf war die Motivation weitaus geringer als noch in der Nacht, die Reise wirklich anzutreten. Dies wurde befeuert durch den Einwurf eines deutschen Freundes: “Ahja wer kennts ned ne. Das sind immer diese komischenSchnellentscheidungen. Und irgendwann denkt man sich dann: boah ne jetzt muss ich morgen nach Sarajevo gurken, nur weil mir da mal Nachts nichts besseres eingefallen is als ne Fahrt nach Sarajevo zu nem Bumskick zu buchen.”
Natürlich sollte das Spiel beileibe kein Bumskick werden, aber dennoch kannte der Reisende ähnliche Gedanken auch von sich, vor allem dann, wenn er alleine unterwegs sein würde. Selbstzweifel, Einsamkeit und ein merkwürdiges Reisefieber plagen ihn dann und dennoch kommt er nicht davon los, sich schon kurz nach einer Reise erneut über Flugpreise, Spielpläne und Übernachtungsmöglichkeiten zu informieren.
Es ist bis hierher wie beim Suchtkranken, der ein bedauernswertes Leben führt, sich durch die Tage quält und auch weiß, dass er es nicht tun sollte und es doch immer wieder tut. Die nächste Spritze ist der nächste Stadionbesuch. Nun weiß der Süchtige, dass besagte Spritze ihn für einige Zeit wieder glücklich macht, während dem Stadiontouristen etwas viel Besseres bleibt: Die Erinnerung, Teil von einem Ereignis gewesen zu sein, an das sich viele Menschen noch lange erinnern werden. Die Erinnerung an atemberaubende Choreografien, lautstarke Gesänge und lebensfrohe Menschen. Nun wird auch der Reisende von dieser Lebensfreude angesteckt und auch sonst bieten ihm Reisen wie diese eine Vielzahl an schönen Erlebnissen, wenn er sich darauf einlässt. Auch wenn beim nächsten Mal dann doch wieder Freunde und Wegbegleiter dabei sein dürfen, für diese Reisen lebt er und er wird sie auch in Zukunft wenn nötig alleine durchziehen. Da gibt es dann glücklicherweise doch einige Unterschiede zum Suchtkranken.
Zurück im Hier und Jetzt sitzt der Verfasser nun also, tatsächlich geplagt von obigen Befürchtungen, im Bus Richtung Zagreb und harrt der Dinge, die da noch kommen mögen. Die kommende Nachtbusfahrt nach Bosnien stresst ihn jetzt schon. Bekommt er ausreichend Schlaf? Ist der Sitznachbar in Ordnung oder im besten Fall nicht vorhanden? Passt vor Ort alles? Er wartet darauf, dass sich die (Vor-)Freude gegen die Zweifel durchsetzt.
Die kroatische Hauptstadt empfängt den Durchreisenden am Abend mit einem Wolkenbruch, weshalb er sich statt eines Stadtrundgangs lediglich für ein Abendessen im Imbiss entscheidet. Statt über jene Straße zu marschieren, auf der vor zirka einem Jahr hunderttausende Fanatiker ihr Nationalteam nach dem Vizeweltmeistertitel mit dem pathetischen “Srce Vatreno” begrüßten, begnügt sich die traurige textverfassende Gestalt mit etwas Fleisch und Bier im Beisl am Eck.
Während sich der Bus nach Sarajevo um über eine Dreiviertelstunde verspätete, war es um den Protagonisten kaum besser bestellt, Kopf- und Zahnschmerzen plagten ihn nun, der Weisheitszahn bahnt sich aktuell seinen Weg durch das Zahnfleisch. Als der Bus dann kam, kam es zu tumultartigen Szenen um die Plätze am Fenster, wobei die Dreistigkeit des Autors am Ende erfolgreich sein sollte. Durch die verregnete Nacht fuhr der Bus nun in Richtung EU-Außengrenze. Die umgekehrte Balkanroute passierte Reisegruppe Sarajevo ohne größere Vorkommnisse, auch die Grenzkontrollen verliefen kurz und schmerzlos, so geht Reisefreiheit. Schön.
Tatsächlich besserte sich die Stimmung des Businsassen Nummer 18 völlig unerwartet mitten in der Nacht – trotz Schlaflosigkeit – mit jeder Minute der sich die Reisegesellschaft, der im Übrigen auch einige Celtic Lads angehörten, Bosnien näherte. Irgendetwas ließ in ihm eine innere Freude hochkommen, es war ihm wie ein Gefühl des Heimkommens. Gerade als er im Begriff war, auch die Grenze ins Land der Träume zu überqueren, fuhr der Bus zu einer Raststation und sofort war der Sandmann wieder weg sowie die Augenoffen.
Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn, die Anstrengungen des Tages machten sich nun bemerkbar. Glück im Unglück der Verspätung, denn so dauerte die Fahrt noch länger als ursprünglich geplant und so kam auch der Schlaf nur etwas zu kurz. Auch die Herbergsmutteröffnete die Tür für den Reisenden schon frühmorgens, was ein kurzes Ablegen und vor allem eine lebensrettende Dusche möglich machte.
Die Ruhe währte jedoch nur kurz, schließlich waren noch einige Dinge zu erledigen. Der erste Weg führte zu Büro und Fanshop des FKS, wo neben der Presseakkreditierung auch ein Schal in seine Tasche wanderte. Danach ein kurzer, vertrauter Rundgang durch Basar und Bas Bascarsija. Schön fand er es hier wie eh und je. Überraschenderweise noch relativ wenig Fußballvolk unterwegs.
Der nächste Programmpunkt war die Fahrt mit der Seilbahn auf den Trebevic, jenen Berg, wo im Jahre 1984 während den Olympischen Spielen in Sarajevo unter anderem Bob- und Rodelbewerbe ausgetragen wurden. Überhaupt ist man hier stolz darauf, Austragungsort gewesen zu sein und so sind die olympischen Ringe und vor allem das Maskottchen Vučko allgegenwärtig. Besagte Seilbahn wurde 2018 reaktiviert, beim letzten Besuch des Protagonisten war es noch zu einer Anekdote bei einer Taxifahrt gekommen. Schon damals wollte die heruntergekommene Bobbahn besichtigt werden, was jedoch (außer mit einem mehrstündigen Fußmarsch) nur mit dem Auto bewältigbar war. Also nahm sich das Reiseduo ein Taxi, um zumindest einen Teil der Bahn besichtigen zu können. Die Fahrt führte jedoch durch die Republika Srpska (eine autonome Provinz in Bosnien, die mehrheitlich von Serben bevölkert wird), wo die Fahrerin aus Sicherheitsgründen das Taxischild abnehmen musste. Nun ist es also wieder möglich, mit der Seilbahn hochzufahren, was einen herrlichen Blick über die Stadt ermöglicht (One Way 15 Mark, Return 20 Mark). Diesmal wollte er die ganze Bobbahn (für Streetartliebhaber und Lost Place-Erotiker ein Muss) abgehen, jedoch war irgendwann für ihn der “Point of no Return” erreicht – die ganze Strecke wiederhoch? Sicher nicht! Also entschloss er sich, den Weg bis hinunter zu laufen. Ständiges Bergabgehen macht die Füße jedoch auch müde und die Blasen (falsches Schuhwerk und zu wenig Training) ließen nicht lange auf sich warten. Da war die erneute Sinnfrage auch schnell gestellt. Irgendwann war die Zivilisation aber doch erreicht und das nächste Lokal wurde angesteuert.
Der weitere Tagesplan wurde wegen Müdigkeit und aufkommendem Gewitter gegen zwei Stunden Schlaf eingetauscht. Das Gewitter ließ den nun wieder fitten Schreiberling jedoch an einer Austragung des abendlichen bosnisch-schottischen Aufeinandertreffens zweifeln – da das Stadion Asim Ferhatovic Hase gänzlich ohne Dach auskommt, stellte er sich zumindest darauf ein, nass zu werden. Der Weg zum Stadion war schnell gefunden und mit jedem Meter wurden es mehr Fanatiker, die den Weg auf sich nahmen, allerdings wurde auch das Gewitter immer heftiger, der Pessimist rechnete bereits zu 90 Prozent mit einer Spielabsage, wurde jedoch von Spielern und Schiedsrichterteam eines Besseren belehrt, die ihr Aufwärmprogramm trotz Donner und Blitz normal durchzogen. Da sich beides bald legte gaben auch die UEFA Offiziellen ihr OK und die 20.000 Zuschauer reckten zu Beginn 15.000 Regenschirme in den Himmel. Das war jedoch nicht Teil einer Choreografie, sondern lediglich zum Schutz vor den Wassermassen, die der Himmel nach wie vor über Sarajevo ausleerte. Die ca. 200 Gästefans aus Glasgow, die seit kurzem auch den allseits beliebten Ex-Rapidler Boli Bolingoli anfeuern, drehten angesichts der Wetterverhältnisse bereits vor dem Spiel oberkörperfrei völlig am Rad, blieben während des Spiels jedoch blass. Nach Aberdeen vor 2 Jahren in Siroki Brijeg und den Rangers letztes Jahr in Skopje bleibt die Erkenntnis, dass die Celtic-Fans den wohl lustlosesten Auftritt hingelegt haben, den der Globetrotter von schottischen Fans bisher erleben durfte. Im Gegensatz dazu stand die Sjever um die Horde Zla. Zu Spielbeginn präsentierte die gut gefüllte Tribüne eine Choreo, passend zum Gegner, unter dem Motto “Not even a shamrock will bring you luck here” und einer Blockfahne, auf der ein Sensenmann ein vierblättriges Kleeblatt und damit das Wappen von Celtic abhackt. Rundherum gab es Zettel in weinrot-weiß zu sehen – alles in allem ein gelungenes Bild. Für die Choreo wurde zuvor ein Platz in der Mitte der Tribüne freigelassen, der danach gestürmt wurde. Gemeinsam mit den enthusiastisch vom ganzen Stadion vorgetragenen ersten Liedern und den wild hüpfenden Jungs und Mädels in der Kurve auch für den durchnässten Schreiberling ein Gänsehautmoment. Leider konnte dieses Niveau nicht über 90 Minuten gehalten werden, dennoch gab es immer wieder Momente, in denen das ganze Stadion freidrehte. Nach dem ebenso überraschenden wie verdienten 1:0 Führungstreffer gab es einen utopischen Jubel von Mannschaft und Fans. Danach nahm das Spiel leider seinen erwarteten Lauf und Celtic drehte das Spiel auf 3:1.Zwischenzeitlich kam der FKS aber nochmal auf und wenn das ganze Stadion zu den Gesängen der HZ, bei der auch Dresdner im Block standen, einstimmte, dann war im Olympiastadion von 1984 die Hölle los. Das Stadion Asim Ferhatovic Hase ist eine herrliche Ostblockschüssel, gänzlich unüberdacht (beim heutigen Wetter eine große Freude), hat 4 große Flutlichtmasten und eine Laufbahn, die zwar irgendwie dazugehört zu diesen Stadien, aber leider doch ein Stimmungskiller ist. Überhaupt war das Spiel ob des Regens, der Kulisse mit Blick auf Hochhäuser und dahinterliegende Hügel und des Publikums ein grandioses Oldschool Erlebnis, wie man es heutzutage nicht mehr allzu häufig erlebt. Nach dem Spiel begann es wieder heftiger zu regnen, was die 4 Kilometer Fußmarsch bis zur Unterkunft nicht gerade zum spaßigen Unterfangen machte.
Am nächsten Morgen begann die Heimreise am Busbahnhof in Sarajevo, wo der Reisende trotz rechtzeitiger Ankunft fast den Bus verpasst hätte, weil ihm nicht bewusst war, dass es zwei Abfahrtsorte gibt, die durch ein Haus verbunden werden und doch getrennt sind. Der müde Krieger hat Glück und verbringt die Zeit im Bus nach Maribor mit schlafen, dem Schreiben dieses Berichts und dem Lesen des (Pf)lästersteins über die österreichische Fanszene. Die Slowenen hatten allerdings ein Problem mit der Einreise des Literaten, anders ist es an einer EU-Binnengrenze nicht zu erklären, dass sie ihn als EU-Bürger eine Viertelstunde über Grund der Reise, Mitbringsel und weitere Schandtaten ausfragten. Ob dies im Zusammenhang mit der inoffiziellen Datei Gewalttäter Sport in Österreichsteht oder eine willkürliche Stichprobe war, bleibt offen. Das Land Slowenien schaffte es jedoch noch in der selben Stunde, wieder seinen Frieden mit dem Protagonisten zu schließen, denn der Umstieg vom Bus in den Zug war eine derart knappe Sache, dass sich weder Fahrkartenkauf (“please go to the international ticket office” – “it’s closed.” – “oh, then i don’t know”) noch Geld abheben ausging. Der Schaffnerin dies erzählt, wollte sie ihm für 4 Euro ein Ticket bis zur Grenze ausstellen, da jedoch die vergangenen Tage nicht in Euro-Ländern verbracht wurden, befanden sich nur 1,50€ im Geldbeutel, Kartenzahlung nicht möglich, online ebenso wenig, Automaten gab es auch nicht. Insofern ist die kostenneutrale Mitfahrt logische Folge der Versäumnisse der slowenischen Bahnbezüglich Modernisierung oder auch Folge der Kulanz der Schaffnerin. Der weitere Weg führt ihn mit dem Zug über Graz und Wien nach Linz, wo er gegen 23:00 erschöpft, aber am Ende doch glücklich, ins Bett fiel.